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Archive for April 2012

Einmal Chemnitz. Immer Chemnitz.

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Und dabei begann alles so unschuldig. Im März bekam ich hohen Besuch hier im beschaulichen Arvidsjaur. Anna und Markus – zwei Studienfreunde aus Chemnitzer Zeiten gaben sich die Ehre, mich bei ihrer Schwedenrundreise zu berücksichtigen. Empfänglich für nordschwedische Sehenswürdigkeiten wollten sie beeindruckt werden. Den Anspruch wollte ich als Lapplands charmanteste Reiseleiterin der Herzen mit der goldenen Anstecknadel für Kundenzufriedenheit natürlich gerne erfüllen.

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Mittwoch:

Um alte Zeiten zu glorifizieren legte ich erstmal Kraftklub auf, als ich meinen Besuch völlig entkräftet vom Arvidsjauer Busbahnhof (ja, der existiert tatsächlich) abholte. Die vergangene Nacht verbrachten sie in einem Schlafwagon mit einem sehr zwielichtigen Russen. Viel redeten sie nicht darüber, ich hoffe einfach, niemand von ihnen wurde Opfer eines sexuellen Übergriffs.

Nachdem sie sich in Göteburg in einem 4-Sterne-Hotel am Portal vorbei schummelten und dort residierten, wollte ich sie auf den Boden der Tatsachen zurückholen und sie vor einem Versnoben bewahren. Große Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Aufstieg können wir uns schließlich nicht machen. Außer Markus vielleicht. Der wird ja jetzt Inschenör.

Arvidsjaur platzt in diesen Tagen aus allen Nähten. Cartester aus verschiedenen Nationen, vorrangig aber aus Deutschland bevölkern sämtliche Hotels und Privatwohnungen. Die Hostels unserer Auslandspraktikanten waren ebenfalls alle belegt. In einem der beiden Hostels konnte ich aber noch ein Zimmer buchen, das Teilnehmer normalerweise nicht bekommen, da es die Etikettierung „Nicht schön, aber selten“ verdient. Aber gut, so waren sie gleich nah am Volk. Drei Jahre Chemnitz haben sie auf das, was sie erwartete hinreichend vorbereitet.

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Ein bißchen Glamour sollte ihr erster Abend trotzdem bekommen, damit der Kulturschock nicht zu groß ist. Wir gingen also chic essen. Im Restaurant Venus* [*Hinweis: der Name wurde von mir geändert um bestimmte, dort beschäftigte Erscheinungen nicht öffentlich zu dissen. Inhaltlich passt’s aber genauso gut und Markus fand den eh schöner]  wollten wir mit viel zu großen Pizzen dekadent auf den Putz hauen. Nun bin ich ja schon ein Weilchen in Schweden und beherrsche einen gewissen Grundschatz der Landesprache. Besonders überlebensnotwendiges wie Nahrungsbeschaffung. Frohen Mutes redete ich also auf Schwedisch los (wie ich es im Übrigen immer in diesem Etablisment tat und bisher auch immer eine erfolgreiche Kommunikation zustande kam) und erhielt konsequent (das muss man ihr lassen) englische Antworten wie auch eine englische Speisekarte. Ich war des Schwedischen nicht würdig. Das war ein herber Rückschlag in meinem Auslandsjahr. Vorgeführt vor meinen Freunden. Zum Glück sieht man sich immer zwei Mal im Leben, wie ich an späterer Stelle noch erläutern werde. Doch drei Frohnaturen wie wir lassen sich nicht den Abend durch eine Dummtröte vermiesen und schon gar nicht eine Woche voller Abenteuer – zumal schon die nächsten kulturellen Highlights warteten.

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Freitach:

Für den Freitagaben hatte ich etwas Waghalsiges vor. Ich habe zwei Ingenieure der Sorte „Cartester“, zwei Europastudenten, einen in feindliche Lager Gewechselten und eine Sozialarbeiterin in meine Küche gesteckt um zu gucken, was passiert. Nach sieben Monaten nordschwedischer Einöde lechzte Etwas in mir nach etwas Spannendem, was zum Spielen und Schokolade.

Schokolade wurde mir mitgebracht. Der Rest ergab sich.  Entgegen anfänglicher Sorgen, meine Gäste würden sich vielleicht nicht verstehen, entpuppte sich der Abend als äußerst angenehm. Es gab selbtgekochtes schwedisches Essen und  hin und wieder einen Clip aus deutschem Unterschicht-TV. Nachtischtechnisch wurden wir mit Semlor (eine Art Hefeteig-Windbeutel mit Kadamom, Sahne und Mandelmasse), Kanelbullar (Zimtschnecken) und Kaffee (Kaffee) versorgt.

Voller Tatendrang durch zu viele Endorphine vom Zucker und zu viel Lachen über Frauentausch und Mitten im Leben beschlossen wir, uns zu einem Aussichtspunkt aufzumachen, um nach Nordlichtern Ausschau zu halten. Auf dem eher etwas engen Weg den Berg hinauf wurde unser Kleinbus von einem Mini (!!!) abgedrängt. Beim Versuch, dem unverschämten Cartester-Prollopack Platz zu machen und den Berg wieder rückwärts runter zu fahren, setze ich ungeschickterweise in den nicht unhohen Schnee auf. Der anfängliche Ärger wich bald einem wohlig-positiven Gefühl, hervorgerufen durch eine geglückte Übung zur Förderung der Gruppendynamik. Das werde ich für meine Problemgruppen im Hinterkopf behalten.

So. Jetzt bekommt mal schön den Bus aus dem Schnee. Nein, Justin. Keiner arbeitet alleine. Jaqueline, hör auf zu motzen und pack dein Smartphone weg. Du kannst dir auch später noch auf Facebook die Kommentare zu deinem neuen Photoalbum „Ich“ mit 57 Bildern von dir von schräg oben anschauen. Ihr schafft das nur im Team.

Wir haben es jedenfalls geschafft. Am Ende des Tages konnten wir also doch noch die malerische Aussicht über den meltingpoint of globalisation genießen und die Metropole Schwedisch-Lapplands im goldenen Lichterglanz strahlen sehen. Dazu noch der Vollmond. Nur die Nordlichter verweigerten sich uns Romantikopfern.

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Samstach:

Das war zwar auf dem Wintermarkt in Jokkmokk, der "Fuchsmann" sah aber ähnlich aus, nur dass seine Mütze tatsächlich auch einen Fuchskopf besaß. Stilecht.

Das war zwar auf dem Wintermarkt in Jokkmokk, der "Fuchsmann" sah aber ähnlich aus, nur dass seine Mütze tatsächlich auch einen Fuchskopf besaß. Stilecht.

Das Wochenendprogramm sollte so hochwertig weitergehen, wie es eingeläutet wurde. Wir standen früh auf und hatten Großes vor. Der Wintermarkt in Arjeplog – ca. 1 Autostunde von Arvidsjaur entfernt. Noch nie etwas von Arjeplog gehört? Nix verpasst. Außer vielleicht das Café Nelly’s, welches uns für gefühlte 27 und tatsächliche 3h ein Obdach bot und uns mit Heißgetränken versorgte. Den Markt hatten wir nämlich in ca. 10 min abgelaufen und uns recht schnell dagegen entschlossen, einen ausgestopften Fuchs oder Baumwollschlüpfer zu kaufen. Nur bei dem Prinzessinenkostüm haben wir alle kurz überlegt, aber da wir uns nicht einigen konnten, wem es am besten steht, haben wir alle aus Solidarität auf den Kauf verzichtet.

Wir hätten wissen müssen, dass unser Fahrer uns den wundervollen Ausblick über Nordschweden nicht aus Menschenliebe zeigte, sondern, dass es mehr eine Wiedergutmachungsleistung im Voraus darstellte, eine Entschädigung für 3h Geiselhaft in einem Kaff, das noch weniger die Bezeichnung Zivilisation verdient als Arvidsjaur.

Arjeplog ist ein wichtiges Zentrum für die Autotestindustrie. Dass diese auch in Arvidsjaur ihre Zelte aufschlug, ist mehr ein Zufall. Unsere Mitfahrgelegenheit war ein Berufsautopaparazzo, der sich vor Wochenabschluss noch einmal auf die Lauer nach geheimen Prototypen legen wollte. Da der Mann sein Lebensunterhalt damit verdient, hatten wir zwar durchaus Verständnis für die Konfrontation mit seinem Vorhaben, nachdem es schon zu spät für uns war, abzuspringen – wir hätten nur einfach die Rommé-Karten mitnehmen sollen. Oder Betäubungsmitteln.

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Endlich zurück in der Home-Zone blieb auch nur noch Zeit für eine kurze Krimifolge in der ZDF-Mediathek und Annas und Markus entnervte Kommentare zur Hauptdarstellerin, ehe ich mich auf einen weiteren Programmpunkt vorbereitete, dem Anna und Markus leider nicht beiwohnen konnten. Nachträglich betrachtet ist das gar nicht so schlecht, ansonsten hätte ich wohl meine Manieren schon am Samstach vergessen und wäre back to the Chemnitzer Roots gegangen.

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Immernoch Samstach:

Morotskaka (mit Link zu einem Rezept, falls jemand nach Backen zumute ist...)

Morotskaka (mit Link zu einem Rezept, falls jemand nach Backen zumute ist...)

Ich war eingeladen. Auf die Abschlussveranstaltung der Autotestsaison von Continental. Chic im Laponia – dem örtlichen Hotel. Kulinarische Leckereien in Aussicht, habe ich mich im Nelly’s zurückgehalten und den anderen den Großteil der Überlebensbeute überlassen. Ich hatte also ein kleines Hüngerchen. Es wimmelte bei dieser Veranstaltung nur so von Karrierten-Hemden-Trägern, der Frauenanteil hielt sich STARK in Grenzen. Trotz meiner liebreizenden Erscheinung im Freundlichkeit botschaftenden Pünktchenkleid erntete ich verschüchterte und aufgeschreckte Blicke, als kenne man im Kosmos einiger Maschinenbauer Weiblichkeit nur in Form von Gundula Gause beim Heute-Journal oder der Bikinigirls auf den Badezimmerpostern ihrer ehemaligen Studenten-WGs. So viel Aufmerksamkeit behagte mir nicht. Ich setzte mich artig und verlegen zu Michael und Flo, versuchte mein Lächeln nicht ganz so gequält aussehen zu lassen und nahm mir für den Abend vor, einfach nicht negativ aufzufallen. Zum Glück wurde das Buffet bald eröffnet, sodass ich die langsam durch den Hunger in mir aufkommenden Aggressionsflammen sanft ersticken konnte, ohne Schaden angerichtet zu haben. Das Essen war sehr lecker, alles schwedische Küche – dazu gab es einen wirklich guten Rotwein, der aus dem schüchternen Ingenieurvölkchen ein schüchtern-kicherndes machte. Besonders hervorzuheben am Menü ist der Mohrrübenkuchen, den es als Dessert gab. Ich hatte extra GANZ VIEL Platz für den Nachtisch in meinem Bauch gelassen und der musste jetzt gefüllt werden. Die Kuchenstückchen waren ziemlich klein geschnitten, sodass man mit 1-2 wahrlich nicht auskam. Irgendwann habe ich mich nicht mehr getraut, mir welche zu holen und habe Micha und Flo vorgeschickt. Ihre Kollegen wären sonst bald dem Eindruck erlegen, die beiden hätten ein ausgehungertes Straßenkind aufgegabelt, dass sie im nächsten Moment mit Hütchen-Spiel abzocken würde.

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Es war höchste Zeit, weiterzuziehen in Richtung Pub – wo das Scheinwerferlicht wieder anderen Damen galt. Dort trafen wir uns mit Anna und sie war fasziniert in welchem Maße der Stereotyp von immer top und stilvoll gekleideten Schwedinnen und Schweden hier nicht zutraf. Vielmehr waren wir in einer Freak-Show gelandet: Fleischwurstbarbie im Prostitutiertenoutfit meets Inzestmoppelchen im Prollo-Look. Holla die Waldfee. Was für eine Augenweide. Auch meine Lieblingskellnerin vom Mittwoch trafen wir hier wieder. Sie trug ein verunglücktest Baby One More Time Schulmädchen Outfit: Ein asymetrisches Top mit diagonalen Streifen in den Farben schwarz und weiß, dazu ein schwarz-pink-karriertes Faltenröckchen und – wie könnte es anders sein – WEißE Stiefel! Im Gesicht sah sie aus, als wäre Der Joker ihr stilistisches Vorbild. Dass sich so eine verunglückte Clownsfigur die Frechheit herausnahm, meine interkulturellen und linguistischen Bemühungen mit Füßen zutreten, nagte immer noch an meinem Stolz. Ich wurde aber kurze Zeit später aufgeheitert, als Michael völlig verstört von der Toilette zurückkam. Die Sanitäranlagen sind in der Kneipe nicht geschlechterspezifisch getrennt und so kam es, dass ihm ein Grüppchen Tailänderinnen auflauerte und eine der Damen ihn fragte, ob sie nicht mit ihm auf die Toilette gehen könne. Da in Schweden Prostitution illegal ist, kann sich der Leser den Rest denken.

Zwei Uhr war Zapfenstreich, die Bürgersteige wurden hochgeklappt und wir gönnten uns etwas Schlaf für den finalen Tag.

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Sonntach

Um als Programm- und Wohlfühlverantwortliche meiner kleinen Reisegruppe noch einmal richtig zu punkten, ging es am Sonntach zu den ca. eine Autofahrtsstunde entfernt liegenden Stromschnellen Storforsen. Diese wollte ich sowohl Anna und Markus als auch ein paar von den Autotestern zeigen, ehe sie nach hause fuhren. Wir hatten tollen Wetter und starteten gegen Mittag. Mein Frühstück fiel bescheiden aus, nach 1-2 Gläsern Rotwein am vorherigen Abend wollte ich bei der Autofahrt kein unnötiges Unwohlsein riskieren, schließlich musste ich Anekdoten zu diversen Bäumen oder Schneehaufen erzählen können. Liegt kein Schnee, so gibt es einen Weg, den man von unten bis ganz nach oben zu den Wasserfällen laufen kann. Doch die Brücke war aufgrund zu viel Schnees gesperrt. Dessen war ich mir bewusst und lotste unser Grüppchen gleich den befahrbaren Weg nach oben, in der Annahme, ein wenig dort zu verweilen, die Natur zu genießen und wieder umzukehren. Ich hatte die Rechnung ohne die abenteuerlustigen Autotester gemacht. Oben fanden wir die reinste Eispiste vor, es war schwer genug, die letzten Meter zu den Wasserfällen zu Fuß zurückzulegen, aber nein, die holden Herren, bewegungshungrig und risikofreudig, haben sich in ihre Köpfen gesetzt, den Weg zumindest wieder runter zu laufen. Wen interessiert der 1m -hohe Schnee und der Eisregen auf dem Rest des Weges. Zum Glück hat uns einer der Jungs mit dem Auto herunter gefahren, ich verspürte wenig Lust, mir den Hals an einem sonnigen Wintertag im März zu brechen. Wir warteten im unten gelegen Hotel auf den Rest.

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Immer noch Sonntach, immer noch Storforsen

Die drei Stunden, die ich für den Ausflug einplante, waren längst vorrüber, der Mohrrübenkuchen vom Vortag war langsam, aber sicher verdaut und ein nichts Gutes versprechender Hunger stieg in mir auf. Meine Anspannung fiel auch den Anderen auf. Mit jeder Minute wurde ich ungeduldiger und gereizter. Zunächst aggro, dann schwach und meinem Schicksal – elendig in der schwedischen Pampa verhungern zu müssen – ergeben. Wir hatten wieder keine Rommé-Karten dabei. Unser Photographen-Fauxpas hätte es uns besser wissen lassen müssen, wie schnell man ungewollt irgendwo im Norbotten-Nirgendwo stranden kann. Mittlerweile waren 4.5h seit dem Aufbruch vergangen. Macht 5.5h seit dem spärlichen Frühstück, macht 21h seit dem Mohrrübenkuchen. Ich wurde zur Gefahr für  meine Umgebung. Unschuldige würden bald sterben. So viel war klar. Ich bereitete mich schon auf eine unaufhaltsame, übermächtige Aggressionswelle vor, die kurz vor bevorstehender Ohnmacht irreparablen Schaden an meinem Mitmenschen angerichten würde. Doch dann kamen endlich die Hardcore-Wanderer zur Tür herein und einer von ihnen war tatsächlich so vorausschauend und trug Proviant bei sich (hätte ich auch, wenn ich von der geplanten Expedition gewusst hätte). Ich bin Timo noch heute so sehr für seine Güte und Großzügigkeit dankbar, da er mir eine Birne und einen halben Schokoriegel abgab und somit meinen Körper daran hinderte, seine lebenserhaltenden Funktionen allmählich einzustellen. Die sich ankündigende Katastrophe konnte vorerst erfolgreich abgewandt werden. Zwar taten die Männer belustigt, mich so zu sehen, aber ich glaube fest daran, dass sie nur versuchten, die Angst zu überspielen. Wir fuhren zurück nach Arvidsjaur. Auf der Fahrt besprachen wir ernste Themen. In den vergangen Tagen hatte ich Anna und Markus öfter mit dem Satz „Benehmt euch mal, wir sind hier nicht in Chemnitz.“ gemäßigt und dafür reichlich Kritik eingesteckt, da die beiden meinten, ich könne nicht auf ewig meine Herkunft verleugnen und solle zu dieser industriellen Perle Sachsen stehen, in der wir gelernt haben uns durchzuschlagen. Diesen Wunsch und Rat zugleich beherzigte ich – vielleicht mehr, als die beiden und ich es uns hätten träumen lassen.

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Zwar noch Sonntach, aber immerhin wieder inmitten einer Ansammlung von Häusern

Zuhause wollten wir zur Feier des Tages, das alle noch am Leben sind, gemeinsam Essen gehen. Beim Zwischenstopp zuhause, bei dem Markus, Anna und ich noch unser Geld holen wollten, stopften wir uns alles Essbare, das wir auf die Schnelle finden konnten in unsere ausgehungerten Münder. Wir hatten nur 2 Minuten. Im Nachinein muss ich sagen, dass diese Entscheidung mein erstes Körperverletzungsdelikt vereitelt hat. Nachdem zwei anvisierte Restaurants am Sonntagabend geschlossen hatten, landeten wir am Ende doch wieder in der Venus. Zu unserer aller Freude war auch die Jokerin wieder da. Wir waren eine große Gruppe und konnten noch die letzten Plätze im Restaurant ergattern. Allerdings reichten die englischen Speisekarten nicht aus. Als ich der Dummtröte auf Schwedisch sagte, dass ich (und Flo) auch eine schwedische Speisekarte nehmen würden, sagte sie nur „Aber die ist auf Schwedisch.“ Ach. Sag bloß. Ich war mit den Nerven am Ende und sagte nun mehr in etwas rauerem Chemnitzer Ton, dass mir das egal wäre. Statt eine Reaktion abzuwarten, nahm ich der Mitarbeiterin des Monats die Entscheidung ab und entwendete ihr die verdammte Speisekarte. Das Ganze wirkte wohl etwas aggressiver, als ich die Intention hatte. Markus sah mich schockiert an und befürchtete anscheinend, dass ich der Trulla gleich meine Gabel in den Arm ramme, wenn sie mir noch einmal blöd käme. Ich gebe zu, der Gedanke war verlockend und für einen Moment zum Greifen nah. Doch die Schokolade, die ich mir vorher verabreicht habe, hat mich soweit besänftigt, dass ich an mich halten konnte und sie noch einmal davon gekommen ist. Ein Hausverbot in der Venus wäre auch deprimierend, da die Auswahl an Gaststätten in Arvidsjaur eher bescheiden ist. Die berufsverfehlte Kellnerin habe ich danach zum Glück nie wieder gesehen.

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Jetzt hatte ich bei der Firma Continental endgültig und für alle Ewigkeit den Ruf als verfressene, unberechenbare und gemeingefährliche Kreatur versteckt im Körper der Unschuld vom Lande weg. Wahrscheinlich werden im nächsten Jahr Plakate in den Büros aufgehangen, die vor mir warnen. Aber keine Sorge, liebe Conti-Menschen: Dann bin ich gar nicht mehr hier, ihr habt nichts zu befürchten!

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Das Schicksal zeigte sich an diesem Abend nach den aufreibenden Ereignissen sehr versönlich. Zunächst konnten wir gemeinsam einen Münsteraner Tatort wie in alten Zeiten sehen und dabei einen edlen Tropfen von der Saale-Unstrut (anders als im Weltecho 😉 ) genießen und anschließend Zeugen eines Naturspektakels werden, auf das wir zwei Abende zuvor vergeblich warteten. Am Himmel leuchteten die bisher stärksten Nordlichter, die ich während meines Aufenthalts hier sehen konnte und verwandelten die Stadt in einen mystischen Ort. Ich war so gebannt von dem Anblick, dass ich gar nicht erst versucht habe, stümperhafte Bilder anzufertigen, die die Eindrücke doch nicht annähernd hätten einfangen können. Zum Glück habe ich ein paar Tage zuvor Guido kennengelernt – auch ein Photograph, der mir freundlicherweise ein paar seiner Aufnahmen gab und ich sie euch jetzt zeigen kann:

Photo: Guidø ten Brink

Photo: Guidø ten Brink

Photo: Guidø ten Brink

In meinen Augen das gebührende Ende, was diese Chemnitzer Reunion in Arvidsjaur verdient hat und genau das, was ich mir als Reiseleiterin für meine zwei Ehrengäste gewünscht habe. Seit dieser Woche versuche ich übrigens das Stückchen Chemnitzer Sonnenberg in mir nicht mehr zu unterdrücken, sondern gebe ihm genügend Raum. Ich habe gemerkt, vor allem bei den Jugendlichen aus Deutschland mit teilweise schwierigem Hintergrund, die ich hier betreue, zieht das recht gut.

Wer hätte gedacht, dass so ein dreieinhalbjähriges, soziales Experiment am Ende noch zu etwas gut ist?!

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